Ausschnitte aus:

Wie viel mensch ...?  – Gedanken und Briefe aus dem Jahr 1989


von Mathias Wienecke


Das Stück spielt im Arbeitszimmer von Micha K. Es ist einfach ausgestattet und atmet eine Atmosphäre von lebendigem Chaos mit einfachem DDR-Charme. Schreibmaschine, Papiere, Bücher, Platten und Kassetten ....

Gotha, den 15. April 1989
Schwester, mein liebes kleines Schwesterlein,
warum, warum nur, hast du mir das zugemutet? Das werde ich nie verdauen können, nie!
Ich verstehe dich ja, aber ich verstehe dich auch nicht. Wie konntest du nur, wie konntest du mir das antun? Du bist einfach drüben geblieben, einfach so – du alte Egoistin, Jana.
Denkst du gar nicht darüber nach, wie es mir geht, was das für mich bedeutet. Werde ich dich erst wieder sehn, wenn wir alt geworden sind.
Eine weitere Reise in den Westen wird es weder für mich noch für unsere Eltern geben. Diese Chance hast du uns genommen. Du bist abgehaun, und wir – höre es genau WIR – müssen das ausbaden.
Danke schön! Vielen tausend Dank. Das wäre doch nicht nötig gewesen! Das wäre doch nicht nötig gewesen, dass du auch gehst. Es sind doch schon viel zu viele, die abgehaun sind. Wir haben doch hier eine Aufgabe. Wie soll sich hier im Osten was verändern, wenn alle abhaun.
Ja ich weiß, Du hast hier keine Perspektive für dich gesehen. Natürlich ist das hier alles schwieriger, gerade dann, wenn man nicht alles „mitmacht“. Aber musstest du gleich so konsequent sein?
Drei Tage ist es nun her, dass ich dich da in Gießen im Auffanglager zum letzten Mal in den Arm genommen hab. Es gab nichts mehr zu sagen nur Tränen. Dann bliebst du da und ich bin zurück gefahren und alles grau hier war noch grauer geworden.
Scheiße man, schon wieder tropft es mir aus den Augen. Aber daran bist nur Du schuld, wenn nachher hier alles verschmiert ist und du es nicht mehr lesen kannst.
Vielleicht ist es ja auch gut, wenn hier alles verschmiert. Die neugierigen Herren werden es dann auch nicht lesen können – und sie werden diesen Brief bestimmt aufdampfen.
Hallo ihr Voyeure, diese Zeile ist für Euch. Schämt ihr euch nicht, wovor habt ihr Angst?
Huhu, ich gehören zu denen, die zurückgekommen sind, macht euch das Angst? Hättet ihr lieber gesehen, wenn auch ich dort im Westen geblieben wäre? Nein, so einfach mache ich es euch nicht. Ich hab hier noch was vor. Ich glaube nämlich immer noch, dass dieses Land eine andere Chance verdient, dass wir etwas besseres leben können als euren fauligen Sozialismus ....

7. Okt. 1989 – Tag der Republik - 40. Geburtstag.
Liebe Mutter,
ich wollte Dir von meinen schönen Erlebnissen von gestern schreiben. Doch dann klingelte das Telefon. Reiner – du kennst ihn – war dran und hat mir erzählt, dass es in Berlin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Die Polizei und Stasi muss brutal gegen alle vorgegangen sein, die versucht haben, ihren Protest zu zeigen bei den Feierlichkeiten.
Zum Glück ist es bei uns hier ruhig geblieben. Wir organisieren ja auch seit drei Wochen ein Friedensgebet wie in Leipzig. Bei uns ist es nicht montags sondern freitags. Und von Woche zu Woche wird es voller. An den vielen verkniffen Gesichtern die da unter uns auftauchen, erkennt man, dass wir gut bewacht werden. Es ist doch toll, wenn man diesen Leuten da die Botschaft des Friedens predigen kann. Im Anschluss an die Andacht werden immer die neusten Informationen ausgetauscht. Ich habe auch einen Aufruf zum Demokratischen Aufbruch vorgelesen. Zig Leute haben unterschrieben und wollen mitarbeiten. Wir haben uns überlegt, Arbeitsgruppen zu gründen, die sich treffen und eigene Papiere erstellen und auch hier für unsere Stadt die Sachen benennen, die verändert werden müssen.
Gestern waren wir bestimmt 300 Leute. Wir haben auf den Altarstufen 40 Kerzen brennen gehabt. Jeder hat verstanden, dass es Geburtstagskerzen sind. Dann hab ich gesagt: „Mir ist heute nicht nach Feiern zu mute“ und alle klatschten. Wir haben eingeladen, eine Kerze auszublasen und am Mikrofon zu sagen, warum einem nicht zum Feiern ist. Das war sehr bewegend. Es sind so viele Wunden, die dieses Land und seine Menschen schon erhalten haben.
Es wurden alle Kerzen ausgeblasen – und es hätten wohl noch mehr sein können. Dann wurden wir aufgefordert, unsere Hoffnungen und Träume zu sagen und jeweils wieder ein Licht zu entzünden. Und auch da kamen Menschen nach vorn und formulierten ihre persönlichen und politischen Hoffnungen. Diese werden uns lebendig halten und mutig machen.
Liebe Mutter, mach Dir keine Sorgen um mich. Was jetzt getan werden muss, muss jetzt sein. Ich will mich nicht der Angst vor „denen da“ beugen.
Es ist gut, dass sich der Widerstand in den Kirchen formt. So gelingt es uns hoffentlich, gewaltfrei zu bleiben. Aber wie lange werden wir die Menschen in der Kirche halten können? Sie drängen raus auf die Straßen – und was da passiert, scheint in Berlin nun begonnen zu haben.
Ich höre noch, wie unsere Bonzen den Chinesen im Juni Beifall geklatscht haben, als sie mit Panzern gegen die Demonstranten vorgegangen sind. Über Hundert sind ums Leben gekommen. Was nur, wenn das hier auch passiert?
Bleib behütet,
Dein Großer
...
9. November 89 - 19.30 Uhr
Jana,
hast du wohl eben die Nachrichten gesehen? Ich hab es gesehen und nicht wirklich verstanden, was der Schabowski da gesagt hat. Das klang so, als darf jetzt jeder, der will,
in den Westen fahren. Kann das sein? Heißt das, dass wir uns bald sehen werden?
Stell dir mal vor, wir könnten eine Reise beantragen – zu Weihnachten vielleicht. Oder wir feiern Silvester zusammen. Wer hätte das gedacht vor einem halben Jahr?
Ich habe es eben Max erzählt beim Gute-Nacht-Sagen. Da hat er mich mit großen Augen angeguckt und wurde sehr ernst. Er setzte sich auf in seinem Bett und sagte sehr bedächtig: „Gut, dass ich das gemacht habe.“
Ich wusste erst gar nicht was er meint. Doch dann fiel es mir ein. Ich musste aus dem Zimmer, weil ich mir das Lachen kaum verkneifen konnte.
Am letzten Freitag zur Demo hatte ich ihn mitgenommen. Es faszinierte ihn, wie da Leute ins Mikrofon sprachen. Er freute sich, wie laut es über den ganzen Platz tönte und alle Leute nach jedem Beitrag klatschten.
Da hat er mich an der Jacke gezupft und zu mir gesagt: „Ich will da auch mal was reinsagen.“
Ich sagte ihm „Klar, Max, tu das. Aber was willst du sagen?“ Ihm fiel natürlich nix ein. Da hab ich ihm einen Vorschlag gemacht, den er offensichtlich sehr gut fand.
Er ging mit mir zum Mikro und ich kündigte an: „Jetzt will Max noch was sagen. Er ist 6 Jahre alt.“ Die Leute klatschten begeistert und Max brüllte ins Mirko: „Ich will meine Tante im Westen besuchen!“ und alle johlten und klatschten wie wild.
Nun glaubt er, dass er die Grenze aufgemacht hat und ich bin ihm sehr, sehr dankbar dafür.
Ich will jetzt Tagesschau gucken und dann mit Reiner telefonieren.
Dein Micha
...