Premiere "Die Mädchen aus Viterbo"

15. Juni 2006





Gabriele:       Wach auf ! Wach auf !

Großvater:    (erwachend) Ja? Gabriele?

Gabriele:       (flüsternd) Schritte auf der Treppe.

Großvater:    Nein, nichts. Es gehen viele Leute hinauf und hinunter.

                               Nicht für uns.




Gabriele:       ... Hier ist alles falsch. Wenn ich zum Fenster hinaussehe,
                     denke ich, es regnet.
                     Du sagst, es sei die graue Wand des Nachbarhauses.
                     Aber ist das eine Erklärung?

Großvater:   Was sollte ich denn sagen?

Gabriele:      Na, ein schlechter Traum, sag es doch!
                    Ein siebzigjähriger Mann und seine Enkelin, die sich
                    verstecken müssen.
                    Drei Jahre in der Wohnung einer edelmütigen Vermieterin.
                    Können nicht auf die Straße – alles Geheimnisse der alten 
                    Madam.




Großvater:   Der 3. Alarm heute.

                    (
Motorengeräusche, Flackschüsse, Bombenabwürfe)

Gabriele:      Frau Hirschfeld sagte, sie würde wahnsinnig werden, 
                     wenn sie noch einen Angriff in dieser Wohnung mitmachen
                    müsste. 
                    Eine freundliche Verabschiedung von uns.

Großvater:   Frau Hirschfeld ist sehr nervös.

Gabriele:     Und ich hätte Lust, wahnsinnig zu werden – 
                    Träumtest du nicht, man hätte sie gefunden?

Großvater:   Die Mädchen aus Viterbo.

Gabriele:     Eine Schulklasse, nicht wahr?
                    Vielleicht Mädchen in meinem Alter.

Großvater:   Wie wird ihnen wohl jetzt zumute sein?

Gabriele:      Ähnlich wie uns. Oder etwas besser.
                    Bomben sind nicht über ihnen.

Großvater:   Hör nicht darauf. Denk an die Katakomben.
                    An die Mädchen aus Viterbo.

Gabriele:     Ich kann sie mir sehr genau vorstellen. 
                   Sie haben alle ihre schönsten Kleider angezogen, 
                   die jetzt niemand mehr bewundert.





Bottari:     Es hat keinen Zweck. Wir bleiben hier.
                 Wir brauchen kein Licht. Sparen wir die Kerzen.
                 Blase sie aus Bianca.

Bianka:     Reicht sie nicht, bis man uns findet?

Bottari:     Natürlich würde sie reichen. Man sucht uns schon.

Lena:       Vielleicht dauert es ziemlich lange. –
                Was ist, wenn wir nun den letzten Zug nicht mehr bekommen?





Frau Winter:   (im Hinausgehen) Hier, die Karte von Hirschfelds.

Gabriele:         Gib sie mir Großvater!

Großvater:      (liest) Herzliche Grüße von der Reise senden
                       Richard und Klara. Es geht uns gut.

Gabriele:         Richard und Klara (lacht)

Großvater:     Die verabredeten Worte!

Gabriele:        Singen mit dem Blick auf den Hohentwiel.

Großvater:     Bis Singen sind sie also gekommen.

Gabriele:        Kennst du Singen? Ein sehr unwahrscheinlicher Name.
                      Und Hohentwiel mit t, w – das gibt es nicht.

Großvater:     Unterdessen müssen sie hinüber sein.
                      Wenn wir es nur erfahren könnten!

Gabriele:     Ich glaube nicht daran, 
                   dass man sich in den Katakomben verirren kann. 
                   Eine Erfindung für die Leser von Illustrierten.
                   Nein, Großvater, alles endet so gut, wie bei uns.

Großvater:  Bei uns?

Gabriele:     Ein Glückstag erster Ordnung.
                   U
nd ich traute mir zu, die Mädchen aus Viterbo zu retten.
                  
Heute habe ich die Macht und das Recht.

Großvater:  Dann nütze es, Gabriele! – Man sucht sie also?
                   Einer von den Mönchen? –
Gabriele:     Nein, es müsste schöner sein.
                  
Um es genau zu sagen: Man müsste dabei weinen können.

Großvater:   Die Liebe, nicht wahr?

Gabriele:     Ja.

Großvater:  Die Liebe wird sie finden.

Gabriele:     Das sag ich.




Lucia:        Nein, Bottari kann uns nicht helfen.
Aber Emilio!

Antonia:     Mit aller Kraft an ihn denken – kannst du das?

Lucia:        Ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich will es versuchen.

Antonia:     Und du zeigst ihm den Weg durch die Katakomben bis zu uns?

Lucia:        Bis zu uns! Von ihm zu mir und von mir zu ihm gehen
                 die Gedanken wie ein Band von Tönen.
                 Solange er sie hört, ist er auf dem Weg zu mir.

Antonia:    Wenn du es mir weniger erklärtest, glaubte ich dir eher.
                 Du hast offenbar die physikalischen Gesetze der Liebe entdeckt,
                 oder soll ich sagen, erfunden?!





Angelica:     Tun wir, was wir können?

Giraldi:         Du hast es gesehen, als du in Rom warst.
                    Feuerwehr, Polizei, Suchtrupps.
                    Alles ist so organisiert, wie es besser nicht möglich ist.

Angelica:     Ich meine uns! Tun wir alles?

Giraldi:        Was können wir schon tun, Angelica? Wir sind zu schwach.
                  
In solchen Fällen müssen die öffentlichen Hilfsmittel
                   eingesetzt werden.
                  Und das ist die Pflicht des Staates seinen Bürgern gegenüber.

 

Angelica:     Deine Gelegenheit, mich ungestört zu besuchen.
                    Ein Glücksfall, der nicht vorauszusehen war.
                    Der Mann auf unbestimmte Zeit, - sagen wir – verreist?
                    Vielleicht für immer. Lorenzo, was wollen wir mehr?!

Giraldi:         ...gewiss.

Angelica:     Immer höre ich diese Stimme:
                   Noch ein paar Tage, noch ein paar Tage,
                   dann hast du Ruh, dann bist du frei.
                   Sag mir, worauf du wartest, Lorenzo!

Giraldi:        Auf dich!




Angelica:    Und was wollen sie?

Emilio:        Ich wollte sie bitten, mir tausend Lire zu borgen,
                   damit ich nach Rom fahren kann.

Angelica:    Ist jemand aus ihrer Familie dabei?

Emilio:        Nein, ich kenne nur eines der Mädchen flüchtig...
                   Verzeihen sie, aber es kommt mir jetzt auch unsinnig vor.

Angelica:    Nachdem sie die Tür geöffnet und mich gesehen haben?

Emilio:        Nein, aber nein! Es hätte ja auch sein können...
                   Sie sahen mich so an.
                   Sie bekommen alles wieder, Signora, so sicher,
                   wie ich sie finden werden.
                   Als ich heute nacht aufwachte, wusste ich es.
                   Ich setzte mich im Bett auf und da war’s.
                   Und ich dachte auch, man könnte nicht alles der
                   Feuerwehr überlassen.

Angelica:     Warten sie! – Ich komme mit.




Bottari:     Still ! Es war mir als riefe mich meine Frau.

Lucia:       Mir war’s als ob Emilio riefe!

Lena:       Wir wollen auch horchen. Vielleicht, dass wir dann alle ... 
                (Gelächter)

Bottari:    Still! – Hört ihr nichts?

Lena:       Nein, ich höre nichts - so lieb es mir auch wäre.

Bianca:    Nichts.

Lucia:       Aber ich höre es! (Unruhe)

Bottari:     Jemand da?    

Angelica:  (entfernt) Hallo!

Emilio:      (entfernt) Hallo!




Großvater:     Ein Zauberkunststück. 
                      Aber seit wann werden Geschichten von Taschenspielern
                      erzählt? Du hast es dir zu leicht gemacht!

Gabriele:        Es war sehr schwierig!

Großvater:     Schwierig, und dadurch leicht.
                      Nein, so ist sie falsch deine Geschichte.

Gabriele:        Ich lasse sie, wie sie ist.

Großvater:     Mir ist, als müsstest du sie noch einmal erzählen.




Gabriele:           Die Karte, Frau Winter, Singen mit dem Hohentwiel.

Frau Winter:     Ja, ich habe sie gesehen.

Gabriele:           Wir freuen uns, dass es Hirschfelds geglückt ist.
                         Und sie, Frau Winter?

Frau Winter:     Ich wasche jetzt ab.

Gabriele:           Freuen sie sich nicht?

Frau Winter:     Ich freue mich nicht. (Schweigen)
                         Ich habe jemanden gesprochen,
                         der Hirschfelds gesehen hat.

Gabriele:          In Singen?

Frau Winter:    In Berlin.Polizeigefängnis Moabit.

Gabriele:          Und die Karte?

Großvater:       Bedeutet - bedeutet nichts.
                        Sie sind nicht hinübergekommen. (Schweigen)




Lena:           Überlass alles Herrn Bottari, Margarita.

Margarita:    Wenn es nach ihm ginge, bleiben wir hier,
                    bis wir verhungert sind.

Bottari:        Wir bleiben hier, um Kraft zu sparen
                   und es so also länger auszuhalten, bis wir gefunden werden.

Margarita:   Danke, ich will es nicht länger aushalten.
                   Ich will eher gefunden werden! Ich gehe! Wer geht mit?!

Christina:    Ich halte es hier nicht länger aus! Ich komme mit!

Margarita:   Wir gehen alle!

Bianca:       Lass doch Herrn Bottari entscheiden.

Lena:         Ja, überlass doch alles Herrn Bottari.

Lucia:         Ich bleibe hier.

Antonia:      Ich auch.




Bianca:     Du meinst also, Lucia, Herr Bottari habe uns aufgegeben?
                 Herr Bottari, sagen sie etwas!

Bottari:      Ich habe uns nicht aufgegeben.

Bianca:     Antonia und Lucia haben recht.
                 Wenn sie uns nicht aufgegeben hätten,
                 Herr Bottari, hätten sie Margarita und Christina
                 nicht laufen lassen.

Lena:        Sagten sie etwas, Herr Bottari?

Bottari:     Nein, ich habe nichts gesagt.

Bianca:    Aber das ist doch nicht möglich. Ich bin 16 Jahre alt.
                Es ist doch nicht möglich, dass ich hier unter der
                Erde verhungere. Das ist doch unsinnig !!

Lena:       Sagen sie doch etwas, Herr Bottari, so sagen sie doch etwas !!

Bottari:     Wir werden nicht verhungern. Wir ... werden gefunden werden.

Bianca:    Jetzt habe ich es an ihrer Stimme gehört,
                dass sie es selbst nicht glauben,
                Herr Bottari. Ich habe gedacht, wenn sie da sind,
                 kann nichts geschehen,
                aber sie wissen ja ebenso wenig wie wir,
                obwohl wir doch Kinder sind!
                Sie sind ebenso hilflos wie wir!!

Bottari:     Das ist wahr.


Lucia:        Herr Bottari ist nicht schuld.    

Antonia:    Glaubt nicht, was Lucia sagt! Ich halte dir den Mund zu, Lucia.

Lucia:        Ich schreie es laut heraus: Ich bin schuld!
                  Ich war die Erste in der Reihe!
                  Ich bin absichtlich in einen anderen Gang abgebogen.
                  Ich habe einen Scherz machen wollen, weiter nichts.
                 Aber ich war es!!

Lena:        Du warst es? Dann hast du den Tod verdient.
                  Wir werden dich töten.
                 Ich erschlage dich !

Bottari:     Lena!!



Lucia:       Erschlag mich, Lena.

Antonia:   Dummheiten! Wir sterben ohnedies alle.
           
(Stille)



Großvater:     Gleichgültigkeit! Das ist also das Ziel, Gabriele?!

Gabriele:        Weil es nichts besseres gibt!
                      Wie könnte man es anders ertragen?

Großvater:     Ich verlange etwas anderes von dir, Gabriele!

Gabriele:       Das ist kein Spiel mehr, Großvater!

Großvater:     Geh in die Katakomben, Gabriele! (es klingelt Sturm)
                      Was sagt Antonia?



Antonia:    Wer ruft mich? Es war wie ein Signal!

Lucia:       Ich habe nichts gehört.

Bottari:     Es ruft niemand.

Antonia:    Nein, es war ein Signal, das ich nur selber hören konnte.

Lucia:       Rettung?

Antonia:   Ja, Rettung! Keine Seile, keine Leitern, keine Laternen,
                 kein Brot, nur Rettung!

Lucia:      Nichts also.

Antonia:   Alles Lucia.

Antonia:     Sie haben alle gebetet, als sie auf Rettung hofften.
                  Ich konnte nicht beten.

Bottari:      Es hatte damals so wenig Zweck wie jetzt.

Antonia:     Ich glaube, man kann erst beten,
                  wenn man von Gott nichts mehr will.

Lucia:        Wie würdest du dann beten?

Antonia gemeinsam mit Gabriele:     Ja, Gott – Ja, ja, ja !!




Großvater:        Mach dich bereit, Gabriele!

Gabriele:          Ja, Großvater!  (Schlagen an die Tür)

Frau Winter:    Es nützt nichts. Ich mache die Tür auf! (geht)


Großvater:      Leb wohl, Gabriele.
                       Du weißt jetzt alles, was du wissen musst.

Gabriele          Ich weiß genau das, was ich brauche! Leb wohl Großvater.

                       (Starkes Schlagen an die Tür – die Tür schlägt auf)

Großvater:     Ja, wir sind da.


ENDE